
(AGENPARL) – ven 27 maggio 2022 Wenn das
Kinderrad nicht
mehr gebraucht
wird, wandert es
als Deko in den
weiß-blauen Far
ben des lokalen
Fußballvereins auf
den Balkon.
Fahrräder sind
in Ferrara überall
zu sehen. Alt
und Jung fahren
damit, und auf
Postkästen sind
sie verewigt.
Dennoch, der 82-jährige Schnei
der ist lebenslänglich SPAL-Fan,
ein wandelndes Lexikon des Fuß
balls und redet sich in Rage darü
ber, was seiner Meinung nach der
zeit gerade wieder falsch läuft im
Club. Dabei fuchtelt er furchterre
gend mit seiner XXL-Schere und
erklärt angesichts ängstlicher
Kunden-Blicke, die habe er 1949
von Verwandten aus Südamerika
geschenkt bekommen.
Der zugeschüttete Po
Das spartanische Leih-Rad
rumpelt weiter durch die Via della
Vittoria, der Lenker lockert sich
merklich bis zum Erreichen der
Via delle Volte. Hier schweift der
Blick unweigerlich nach oben,
auf brückenartige Mini-Häuser,
die diese zwei Kilometer lange
Gasse vielerorts überspannen. Es
waren früher Verbindungstrakte
zwischen den Lagerhäusern am
Fluss Po und den dahinterliegen
den Wohnhäusern. Bis der Po sich
über etwa drei Jahrhunderte ein
anderes Flussbett erschloss, das
alte versandete und heute – zuge
schüttet – die Via Carlo Mayr ist.
Hier, abseits von Fußgänger
zone und Geschäften, scheint es,
als sei Ferraras Altstadt ausge
storben. Ein Irrtum – 90.000 der
gut 130.000 Ferrarese leben und
arbeiten hier, kaufen ihre Lebens
mittel meist um die Ecke.
„Coppia Ferrarese“ etwa – das
typische Sauerteigbrot der Stadt,
angeblich gedrechselt wie
die Zöpfe der unehelichen
Papsttochter Lucrezia
Borgia, die im 16. Jahr
hundert als Fürsten-
Gattin im Castello Esten
se residierte. Das vielleicht
beste Coppia entsteht in der
Bäckerei Perdonati. Der Chef
zeigt Besuchern in der Backstube,
wie der quietschgelbe Teig aufs
Blech und in den Ofen kommt.
Dabei erzählt der 85-Jährige, dass
ihn alle Sergio rufen und er glaub
te, so zu heißen, bis er 18 war. „Da
holte ich meinen ersten Pass ab,
und es stand Romano als Vorna
me drin.“ Seine Eltern hatten ihn
in ihrer Mussolini-Begeisterung
nach dem jüngstem Sohn des Dik
tators genannt, sich aber bald ge
schämt und ihn Sergio gerufen.
Beim Einbiegen in die Via Maz
zini dreht sich nach dem Lenker
nun auch der Sattel des Leihrads
leicht mit, also erst mal absteigen,
die Zwingschraube noch fester
ziehen und checken, welche Räder
an den pastellfarbenen Fassaden
von Ferraras Flaniermeile lehnen.
Besonders viele Graziellas sind es
hier – italienische Klapprad-Klas
siker mit dem Spitznamen „Rolls
Royce du Brigitte Bardot“, denn
die französische Schauspielerin
war Graziella-Fan und posierte
in den 1960er-Jahren gern damit
auf einem Foto vor einer der briti
schen Luxus-Karossen.
Höchste Zeit für richtige Rad
wege, damit das Leihrad nicht
völlig auseinanderfällt. Die gibt’s
nur am Rande, wo sich die neun
Kilometer lange Stadtmauer um
die Altstadt schlängelt. Sie ist aus
leuchtend roten Lehmziegeln ge
baut und hat – nun ja – bedenklich
„Karies“. Vor allem in Bodennähe.
Dort haben die Ferrarese nach
dem Krieg Backsteine aus der
Mauer geschlagen, um ihre Häu
ser wieder aufzubauen. Heute
schleichen sich nachts immer
noch Mauer-Spechte hin und bre
chen die porösen Quader aus der
Mauer, verkaufen sie für Renovie
rungen, stylish umgebaute Lofts
oder einfach als Souvenirs.
„Secondhand“-Steine
Die einst zahlreichen Ziegelei
en Ferraras haben dichtgemacht,
also fehlt Neuware, und so ma
chen Stein-Dealer mit „Second
hand“-Steinen gute Geschäfte.
Auf dem Weg zurück in die Alt
stadt bleiben zwei Erkenntnisse.
Erstens: Möglich, dass das Leih
rad nicht bis zum Hotel durch
hält. Zweitens: Wenn nicht, dann
hat Italiens fahrradfreundlichste
Stadt altersgerechte Gnadenhof-
Angebote – als Speisekarten-Hal
ter vorm Restaurant oder als an
geschraubte Fenstergitter-Deko,
blau-weiß angemalt in den Ver
einsfarben von SPAL Ferrara.
Übernachten:
Das Hotel Carlton im Zentrum
Ferraras ist hell und stylish eingerichtet, bietet
sowohl Zimmer als auch kleine Apartments und
eine deutschsprachige Webseite. DZ ab ca. 100
€.
. Das Hotel An
nunziata liegt vis-à-vis vom Castello Estense, DZ
ab ca. 100
€.
http://www.annunziata.it
Essen und Trinken:
Die Trattoria da Noemi ist
benannt nach der Gründerin und Mutter der heu
tigen Chefin. Noemi war eine sehr emanzipierte
Frau, die mit zehn Jahren die Schule abbrechen
und für ihre Brüder kochen musste, mit selbst
gemachtem Eis erste Schritte in Richtung Gast
ronomie wagte und später alleine die Trattoria
erönete – gegen den Willen ihres Mannes.
Die helle, moderne Alternative ist das Ristoran
te Ca d’Frara – mit einem unschlagbaren Menü.
http://www.ristorantecadfrara.it
Erleben:
Maria Teresa Orsatti spricht gut Deutsch
und bietet spannende Radtouren durch Ferrara
GUT ZU WISSEN
Giorgio Cale arbeitet seit 60 Jahren als
Schneider. Der freundliche Mann wird nur grimmig,
wenn er über Fußball redet.
Jeden Montag findet
der große Markt mit über 200 Ständen auf der
Piazza del Traviglio und der Via Bologna statt.
Das zu Zöpfen gedrehte Sauerteigbrot „Coppia
Ferrarese“ kann man besonders in der Bäckerei
Perdonati von Sergio (unten) genießen.
Bologna
Ferrara
Venedig
FOTOS: BRÜNJES, ISTOCK, IMAGO IMAGES